Kein unerträgliches Zurück!
Protest gegen die Streichung des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte an der Universität Jena

Der Text ist ein Vorabdruck und wird demnächst in „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ veröffentlicht.

Im Juli 2022 entschied der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, den Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte nicht neu zu besetzen. Mit der Emeritierung von Professorin Gisela Mettele im Jahr 2025 sollte der Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte gestrichen werden. Seit September haben über 3.300 Menschen unsere Petition für den Erhalt des Lehrstuhls unterzeichnet.1 Sechs offene Briefe haben den Präsidenten der Uni Jena Walter Rosenthal erreicht [Stand: November 2022], unter anderem vom Arbeitskreis für historische Frauen und Geschlechterforschung (akhfg) und der Forschungsplattform Gender: Ambivalent In_Visibilities (GAIN) der Universität Wien. Nachdem sich der Präsident weder zu den Forderungen noch zu Petition und offenen Briefen geäußert hatte, haben am 30. November ca. 300 Studierende den größten Hörsaal der Universität Jena besetzt. Sie forderten den Erhalt des Lehrstuhls, eine demokratischere Einbindung von Studierenden in Entscheidungsprozesse der Universität und eine tarifliche Bezahlung von studentischen Mitarbeiter*innen. Die Initiative Freund*innen der Geschlechtergeschichte, eine Gruppe aus Promovierenden, Mitarbeiter*innen und Studierenden protestiert gegen den Beschluss des Fakultätsrats und unterstreicht die Bedeutung der Geschlechtergeschichte für Wissenschaft und Gesellschaft.

1. Geschlechtergeschichte an der Universität erhalten!

Die Geschlechtergeschichte als Fach erschließt historische Prozesse, indem sie die Kategorie Geschlecht als Analysekategorie auf den jeweiligen historischen Gegenstand bezieht und die historisch veränderbaren Ausprägungen von Geschlechterverhältnissen analysiert und dabei ihre intersektionale Verschränkung mit anderen Dimensionen von Ungleichheit berücksichtigt.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde die historische Frauen- und Geschlechterforschung erstmals 1986 als universitäres Fach institutionalisiert, als die an der Universität Bonn lehrende Geschichtsdidaktikerin Annette Kuhn die Erweiterung ihrer Denomination um ,Frauengeschichte‘ erwirkte. Bis 1994 entstanden drei weitere Lehrstühle mit Doppeldenominationen für Frauen- beziehungsweise Geschlechtergeschichte in Bielefeld, Bochum sowie an der FU Berlin. Von diesen vier Lehrstühlen behielten nach Emeritierung der Lehrstuhlinhaberinnen lediglich zwei diesen Bezug – jedoch kamen weitere hinzu. Neben dem Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte in Jena existieren aktuell vier Lehrstühle mit Doppeldenominationen an den Universitäten in Bielefeld, Bochum und Magdeburg sowie eine 2013 eingerichtete Juniorprofessur an der FU Berlin – der weitere Fortbestand der Professur in Magdeburg ist allerdings unsicher. Zudem weisen einige deutsche Professor*innen die Geschlechtergeschichte als Forschungsschwerpunkt aus.

Die Geschlechtergeschichte in Jena besitzt demnach einen besonderen Platz in der Forschungslandschaft der Bundesrepublik: Während Doppeldenominationen häufig zuungunsten der Geschlechtergeschichte verändert werden, wenn die Lehrstuhlinhaber*innen wechseln und Forschungsschwerpunkte ohnehin an die amtierenden Professor*innen gebunden sind, ist der Jenaer Lehrstuhl mit seinem ausschließlichen Bezug auf die Geschlechtergeschichte einmalig in Deutschland. Die weitreichende Entscheidung einer Streichung des Lehrstuhls betrifft daher nicht nur die Universität Jena, sondern die gesamte Forschungslandschaft Deutschlands.

2. Der Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte in Jena ist zukunftsweisend!

Am Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte an der Universität Jena werden vielfältige Themen behandelt. Insbesondere befassen sich die Forschungen hier mit dem Zusammenhang von Geschlecht und Religion, Geschlecht im (sub-)urbanen Raum, den Auswirkungen von Geschlecht in der Universitäts- und Bildungsgeschichte, (Frauen-)Bewegungsgeschichte, queeren Ansätzen in der Romantikforschung und dem Themenkomplex Geschlecht und Migration. Einige dieser Forschungen operieren mit Methoden der digitalen Geschichtswissenschaft, deren Potenziale zur Rekonstruktion und Repräsentation von Geschlechterverhältnissen auf einer internationalen Tagung geprüft wurde.

Die Lehrstuhlinhaberin Gisela Mettele beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Verflechtung von Geschlecht, Religion und Migration. Ihre Forschungen zur Herrnhuter Brüdergemeine zeigen beispielsweise, wie lokale Handlungsmuster und Wertvorstellungen historischer Akteur*innen durch vielfältige Transferprozesse global wirksam werden konnten und welche geschlechtsspezifischen Rollenmuster sich innerhalb dieser religiösen Gemeinschaft herausbildeten. In diesem Bereich sowie in der Geschichte des Bürgertums leistete sie grundlegende Forschungsarbeit. Gisela Mettele hat in Jena einen international vernetzten und innovativ arbeitenden Lehrstuhl aufgebaut, der in viele Richtungen anschlussfähig ist. Eine Nachbesetzung des Lehrstuhls könnte an diese spannende und zukunftsweisende Forschung anknüpfen und neue Impulse für die Geschlechterforschung und das Fach Geschichte setzen.

Der Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte ermöglicht es, epochenübergreifend, transnational und interdisziplinär zu arbeiten: Geschlechterverhältnisse können sowohl in ihrer Kontinuität als auch in ihrer Wandelbarkeit oder jeweils spezifischen historischen Ausprägung sichtbar werden. Dadurch, dass Historiker*innen, die zu verschiedenen Epochen arbeiten, in Jena zusammenkommen, entsteht ein außergewöhnlicher Forschungszusammenhang, der nicht den Epochengrenzen verhaftet bleibt: Themengebiete reichen von protestantischen Emigrationsbewegungen in der Frühen Neuzeit über die Geschichte von Männlichkeit(en) in der Neueren und Neuesten Geschichte bis hin zu Konflikten in der westdeutschen Frauenbewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Auf konzeptioneller Ebene verbinden all diese Forschungen die gemeinsamen Fragen nach Netzwerken und Machtbeziehungen, deren Ausprägungen ganz maßgeblich durch Geschlechterverhältnisse bestimmt werden, wodurch sie zugleich vielfältige Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Problemkonstellationen bieten. Auch die Lehrer*innenbildung profitiert von einer an Gegenwartsfragen orientierten geschlechtergeschichtlichen Expertise. Geschlechterverhältnisse gehören zu den zentralen Inhalten des Thüringer Lehrplans im Fach Geschichte. Neben Politik und Wirtschaft wird Geschlecht als eine historische Erfahrungsdimension genannt, die es zu reflektieren gilt.2 Zudem formulierte die Thüringer Landesregierung in ihrem Landesprogramm für Akzeptanz und Vielfalt das Ziel, Heterogenität und Inklusion in Bezug auf Sexualität und Geschlecht in der Lehrer*innenausbildung zu stärken. Ohne historische Tiefendimension lassen sich diese inhaltlichen Bezüge nicht adäquat fundieren.3

Die Geschlechtergeschichte bereichert das gesamte Fach Geschichte durch erkenntnisgenerierende Perspektiven: Ein geschlechtergeschichtlicher Fokus überschreitet nationale und epochale Grenzen. Es eröffnen sich neue Forschungsfragen und -zusammenhänge. Dabei steht Geschlecht immer in seinen Verflechtungen mit anderen Ungleichheitsverhältnissen im Fokus. Geschlechtergeschichte ist immer intersektional.

3. Der AfD entgegentreten – für eine offene und pluralistische Forschung!

Bereits 2016 veröffentlichte die Alternative für Deutschland (AfD) ein Positionspapier zu „Gender Mainstreaming/Gender Diversity“. Darin wird die binäre Geschlechterordnung biologistisch verteidigt und die Gleichstellung der Geschlechter als unzulässiger Eingriff des Staates in das Privatleben delegitimiert. Eine zentrale Forderung der AfD ist das sofortige Ende jeglicher Förderung der Gender Studies an Hochschulen und Universitäten: „Bestehende ,Gender‘-Lehrstühle sollen traditionellen Studiengängen zugeordnet und bei Ausscheiden der Stelleninhaber nicht wieder nachbesetzt werden“.4 Gerade in Thüringen, wo der rechtsradikale Flügel der Partei um Björn Höcke besonders stark ist, wirkt die Streichung des Lehrstuhls fatal.

So lassen sich die Positionen der AfD gegen wissenschaftliche Forschung zu Geschlechterverhältnissen an den Universitäten und jüngst gegen das Verwenden geschlechtergerechter Sprache – bestärkt von konservativen Kräfte wie der CDU im thüringischen Landtag – in einen größeren Zusammenhang eines antifeministischen Backlash und eines sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene vollziehenden Rechtsrucks einordnen.5 Geschlechterforschung wird von der AfD und anderen rechten sowie konservativen Akteur*innen zum Aushängeschild einer übermächtigen ,Gender-Lobby‘ stilisiert. Mit der Verschwörungserzählung einer ,Gender-Lobby‘ möchte die AfD eine Diskursverschiebung erreichen. Dabei bietet sich der antifeministische Diskurs über ,Gender‘ als Brückenideologie an, um rechtsextreme und neonazistische Gruppierungen mit christlich-fundamentalistischen bis hin zu konservativen Milieus zu vereinen. Letztlich geht es der AfD und anderen antifeministischen Akteur*innen um den Erhalt von Privilegien in einer von Ungleichheiten durchzogenen Gesellschaft.

Angesichts der Angriffe gegen Geschlechterforschung und feministische Wissenschaftler*innen ist es umso wichtiger, Geschlechterforschung an den Hochschulen zu stärken und die Geschlechtergeschichte an der Universität Jena zu erhalten.

Wir als Freund*innen der Geschlechtergeschichte kämpfen für den Erhalt des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte in Jena und treten für einen Ausbau von Geschlechterforschung in ganz Deutschland ein. Wir fordern vom Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät und dem Präsidenten der Universität Jena einen transparenten und länger angelegten Aushandlungsprozess über so eine weitreichende Entscheidung wie die Streichung eines etablierten, zukunftsorientierten und international vernetzten Lehrstuhls! Für eine intersektionale Forschung und plurale Gesellschaft ist die Geschlechtergeschichte unabdingbar!

Der vorangehende Text ist im November 2022 entstanden, seitdem ist viel passiert: Die Besetzung des Hörsaal 1 durch Studierende wurde in regionalen und überregionalen Medien viel thematisiert und hat zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für die geplante Streichung des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte geführt. 

Am 13. Dezember 2022 tagte der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät. Ein Tagesordnungspunkt war die Diskussion um den Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte. An der Sitzung nahmen ca. 150 Interessierte, Besetzer*innen, FSR-Vertreter*innen und Fakultätsangehörige aller Statusgruppen teil. Der Fakultätsrat nahm nach einer längeren Diskussion den folgenden Antrag an: „Der Fakultätsrat beauftragt den Dekan, sich mit dem Präsidenten und der Institutsleitung des Historischen Instituts zu verständigen. Die Gespräche sollen zum Ziel haben, belastbare Wege für den Erhalt der Professur für Geschlechtergeschichte aufzuzeigen.“ Wir freuen uns sehr über diese Entwicklung und hoffen darauf, dass die Chance die Geschlechtergeschichte an der Uni Jena zu erhalten, genutzt wird. 

Am 15. Dezember wurde das Bündnis „Mehr Bildung wagen – für die Ausfinanzierung der Geisteswissenschaften und sichere & gut bezahlte Arbeit an der Universität“ gegründet, das aus mehr als 40 Gruppen und Einzelpersonen besteht, darunter Gewerkschaften, Stadtratsfraktionen, Mitglieder des Landtags und Universitäts-Institute. Das Bündnis setzt sich für die Ausfinanzierung der Geisteswissenschaften und sichere und gut bezahlte Arbeit an der Universität für alle Statusgruppen ein. Außerdem fordert es ein entschiedenes Vorgehen gegen den Rechtsruck im Land und eine Demokratisierung der Universität. Auch wir als „Freund*innen der Geschlechtergeschichte“ sind Teil des Bündnisses und werden die Gespräche der Universitätsleitung zum Erhalt der Geschlechtergeschichte beobachten.

1 Petition „Geschlechtergeschichte an der Uni Jena erhalten, unter: uwww.openpetition.de/petition/online/geschlechtergeschichte-an-der-uni-jena-erhalten-2; Zugriff: 9.1.2023.

2 Vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hg.), Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife „Geschichte“, Erfurt 2021, 6, 8, 29, 32, unter: https://www.schulportal-thueringen.de/media/detail?tspi=2839; Zugriff: 16.11.2022

3 Vgl. Thüringer Staatskanzlei (Hg.), Thüringer Landesprogramm für Akzeptanz und Vielfalt, Erfurt 2018, 29, unter: /https://www.staatskanzlei-thueringen.de/fileadmin/user_upload/Landesregierung/Themen/Akzeptanz-Vielfalt/broschure_des_landesprogrammes_fur_akzeptanz_und_vielfalt.pdf.

4 Alternative für Deutschland, Forderungen des Landesverband Thüringen in Bezug auf Gender Mainstreaming / Gender Diversity (Gender – Ideologie) für Thüringen und Deutschland, 2016, unter: https://www.afd-thueringen.de/thuringen-2/2016/04/die-alternative-fuer-deutschland-landesverband-thueringen-fordert-in-bezug-auf-gender-mainstreaming-gender-diversity-gender-ideologie-fuer-thueringen-und-deutschland-das-folgende/; Zugriff: 16.12.2022

5 /https://parldok.thueringer-landtag.de/ParlDok/dokument/89629/gendern_nein_danke_regeln_der_deutschen_sprache_einhalten_keine_.pdf, Zugriff: 16.12.2022.