Offener Brief Forschungsplattform GAIN

Offener Brief der Forschungsplattform GAIN – Gender: Ambivalent In_Visibilities an der Universität Wien vom 25. August 2022

Sehr geehrter Herr Präsident Professor Dr. Rosenthal!

Mit Bestürzung mussten wir den Beschluss der Philosophischen Fakultät der Universität Jena zur Kenntnis nehmen, die Professur für Geschlechtergeschichte nicht mehr nachzubesetzen.

Durch die Einrichtung der Professur im Zuge der Exzellenzinitiative vor zwölf Jahren ist es der Friedrich-Schiller-Universität in Jena gelungen, diese an international etablierte Standards der Geschlechtergeschichte wie der Gender Studies allgemein anzubinden – mit großem Erfolg. Die Professur für Geschlechtergeschichte an der Philosophischen Fakultät Ihrer Universität, die aktuell durch Frau Professorin Dr. Gisela Mettele als Lehrstuhlinhaberin vertreten wird, hat sich weit über die Grenzen Deutschlands hinaus einen Namen gemacht, wozu etwa die Organisation von einschlägigen Tagungen wie zum Beispiel – besonders innovativ – jener zu „Digital Humanities and Gender History“ im Februar 2021 beigetragen hat, deren Ergebnisse gerade publiziert wurden. Es konnten außerdem an diesem Lehrstuhl wegweisende Drittmittelprojekte zu zentralen Themen und Problemfeldern der immer auch interdisziplinär ausgerichteten Geschlechterforschung eingeworben sowie nationale wie internationale Kooperationen initiiert werden. Schließlich zeugt die Ausbildung, Betreuung und Vernetzung von vielen Studierenden von der Qualität der Jenaer Geschlechtergeschichte.

In Verbindung mit dem Lehrstuhl ist die Jenaer Geschlechtergeschichte zu einem Paradebeispiel für das große Potential, den hohen Erkenntniswert und den regen studentischen wie gesellschaftlichen Bedarf an konkreten Analysen historisch gewachsener, immer auch variabler Ungleichheiten geworden. In diesem auch interdisziplinär ausgerichteten Wissensfeld repräsentiert die Jenaer Geschlechtergeschichte vielfältige inhaltliche Schwerpunkte und gewährleistet darüber hinaus, dass die Anwendung der Kategorie Geschlecht im Kanon der Geschichtswissenschaften Ihrer Universität in institutionalisierter Form präsent ist. Dies entspricht dem Stand der Forschung ebenso wie den Richtlinien vieler Universitäten und anderer Bildungsreinrichtungen, die Geschlechterforschung / Gender Studies angesichts noch immer bestehender Forschungslücken und geschlechtsbezogener Diskriminierungen zu einer Leitlinie der Bildungspolitik gemacht und in ihrer institutionellen Struktur verankert haben. Auch die Forschungspolitik der Europäischen Union verpflichtet zur Einbeziehung geschlechtsbezogener Parameter in allen Forschungsfeldern. Professuren der Geschlechtergeschichte leisten daher einen wichtigen Beitrag zum Wissenstransfer und zur Konkurrenzfähigkeit wissenschaftlicher Forschung. Uns hat in dieser Sache auch eine eindringliche Stellungnahme von Jenaer Studierenden erreicht. Sie weisen völlig zu Recht auf jene (historische) Vielfalt hin, die Geschlechterforschung aufzuzeigen vermag. Diese dekonstruiert eindimensionale oder pauschalisierende analytische Konzepte, die realen Pluralismus verschleiern und die Komplexität historischer Entwicklungen nicht angemessen zu erfassen vermögen. Das ist auch mit Blick auf die
Grundsätze einer liberalen Demokratie von zentraler Bedeutung: Wie sollen wir ohne fundierte Kenntnisse geschlechtergeschichtlicher Prozesse und Entwicklungen heutige Krisensituationen wie Krieg, Pandemie und Klimakatastrophe verstehen, die ganz fundamentale vergeschlechtliche Dimensionen haben?

Mit Fragen dieser Art befassen wir uns auch in der Forschungsplattform GAIN – Gender: Ambivalent In_Visibilities (https://gain.univie.ac.at/), die Schwerpunkte der Gender Studies an der Universität Wien fakultätsübergreifend bündelt. Nicht zuletzt wären durch die Abschaffung der Professur für Geschlechtergeschichte an der Universität Jena Kooperationen einzelner Mitglieder unserer Forschungsplattform mit der dort so erfolgreich entwickelten Fachkompetenz in der Geschlechterforschung bedroht. Angesichts der aktuellen Situation, des exzellenten Standings und der internationalen Vernetzung der Jenaer Geschlechterforschung ist völlig unverständlich, dass der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät Ihrer Universität beschlossen hat, die Professur für Geschlechtergeschichte nach 2025 einer neuen Widmung zuzuführen. Wir schließen uns dem Protest der Studierenden an und möchten Ihnen nahelegen, diese Entscheidung nochmals zu überdenken und den Ratsbeschluss zur Umwidmung zu revidieren.

Mit unseren besten Grüßen

ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christa Ehrmann-Hämmerle,
Stv. Sprecherin der Forschungsplattform GAIN (Institut für Geschichte)

Univ.-Prof. Dr. Sylvia Mieszkowski, MA, Stv. Sprecherin der Forschungsplattform GAIN
(Institut für Anglistik und Amerikanistik)

Univ.-Prof. Dr. Birgit Sauer, Stv. Sprecherin der Forschungsplattform GAIN
(Institut für Politikwissenschaft)